Er ist unschuldig. Davon ist Molly absolut überzeugt. Doch nun hat sie nur noch fünf Wochen, 35 Tage, um die nötigen Beweise zu finden, die ihren Vater entlasten, die Florentin Carver aus der Todeszelle befreien können. Seit knapp zehn Jahren sitzt er hinter Gittern, weil ihm der Mord an Casper Rosendale vorgeworfen wird, dem Sohn von Jonathan Rosendale, steinreicher Firmeninhaber und Namenspate der Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Irgendwie muss Molly an die nötigen Informationen gelangen. Doch wie? Sie schleust sich in den Kreis der Familie Rosendale ein, tarnt sich als Hausmädchen, will versuchen, aus dem Inneren heraus zu recherchieren. Doch ihre Tarnung hält nicht lange, und Molly sieht sich mit einem Strudel aus Un- und Halbwahrheiten, aus Geheimnissen, Intrigen und unseriösen Machenschaften konfrontiert. Dieses Dschungelgeflecht gilt es für Molly zu entwirren, vielleicht sogar mit Hilfe von Caspers Bruder Joel – doch die Zeit arbeitet konsequent gegen sie.
„'Ich bin seine Tochter', sagte sie.
'Aber falls er es doch war?'
'Ich kenne ihn.'
'Das ist alles?'
'Das ist genug.'“ (S. 148)
Rund um den Wahrheits-Topos und die verschiedenen Perspektiven, die man ihm gegenüber einnehmen kann, konstruiert Takis Würger mit „Unschuld“ einen Roman, der einem Todesfall – unglücklich oder vorsätzlich? - auf den Grund gehen soll. Er lässt seine Protagonistin wie eine Detektivin die einzelnen Schichten des nebulösen Dramas sorgsam abtragen, bis sie am Ende zum Kern der Geschichte vordringt, der die vermeintliche Wahrheit enthält. Würger zeigt dabei, dass Wahrheit und Schuld niemals geradlinig-linear angeordnete Größen sind, dass sie sich vielmehr aus einem Wust an Abhängigkeiten zusammensetzen, die zunächst unentwirrbar erscheinen.
An Polaritäten wird der Roman und sein narrativer Fortgang ausgerichtet: wahr und falsch, schuldig und unschuldig, schwarz und weiß! Schnell wird mit Jonathan Rosendale der Bad Guy eingeführt, der böse Mann, der die Geheimnisse auf seiner Seite hat, der in großer Überheblichkeit seine Macht ausspielt und die anderen Charaktere wie Marionetten an Fäden beliebig für sich tanzen lässt. Mutter Tiffany Rosendale glänzt lange Zeit durch Abwesenheit, Caspers Bruder Joel, irgendwo zwischen Bauernschläue oder vielleicht doch mentaler Unterentwicklung, schwingt sich nach anfänglicher Skepsis der ermittelnden Molly gegenüber zum Verbündeten auf. Molly selbst ist gezeichnet, hat mit einem Stottern zu kämpfen – eine Metapher für ihre Machtlosigkeit?! - und kämpft dennoch wie eine Löwin um ihr Junges, in diesem Fall mit vertauschten Rollen. Dazu noch das Setting der verschwiegenen Kleinstadt, in der Mechanismen hinter den Kulissen ablaufen, die die schönen Fassaden zu verdecken haben.
Takis Würger entwirft ein Szenario, wie man es aus Hollywood-Kleinstadt-Filmen bestens kennt. In filmisch schnell geschnittenen Szenen springen wir durch die Geschichte, der an der einen oder anderen Ecke etwas mehr Fleisch an den Knochen gut getan hätte. Etwas zu reißbrettartig, etwas zu glatt konstruiert, so gleiten wir als Leser*innen durch den klaren und strukturierten Ablauf der Handlung. Auch eine Krankheit in der Familie Carver wird als Motiv immer wieder eingestreut, geistert als Imago, als am Horizont dräuendes Unheil durch die Story – und wirkt dennoch ebenfalls ein wenig programmiert. Etwas mehr an Zwischentönen hätte die Farbpalette in meiner Wahrnehmung vertragen, etwas mehr Mut darin, auch die Ecken der Räume auszuleuchten. So bleibt „Unschuld“ eine sehr flüssig zu lesende Geschichte, deren klare Struktur uns als Leser*innen für meinen Geschmack jedoch zu eng betreut. Wie gerne hätte ich mir von der in seiner Anlage äußerst spannenden Geschichte einfach mehr zutrauen lassen!