Von:
Friedhelm Wessel, Diplom-Theologe
aus Aachen
20.09.2004
Die Bibel für Staunende
Als Vater dreier Kinder, die nun in das Alter kommen, in denen sie selbst zu Texten greifen können, konnte ich mich bisher nicht zur Anschaffung einer "Kinderbibel" hinreißen lassen, weil mir ihr Anspruch, einen authentischen Bibeltext wiederzugeben, nicht erfüllt schien. Da kommt vieles als billige Anbiederung daher an etwas, das Erwachsene für "kindgerecht" halten - tatsächlich ist es aber nur "Kinderkram". Man kann Kindern nicht zuerst eine "abgespeckte" und "umgebogene" Lektüre anbieten, um ihnen dann später eine "Wahrheit" aufzutischen. Damit wird mehr Schaden als Nutzen erzielt - ganz abgesehen von den Eltern, die ihre biblischen Grundkenntnisse häufig den Bibelausgaben ihrer Kinder entnehmen und über diese Ebene später nie mehr hinaus kommen. Nein, Kinder und Jugendliche sollen mit ihrer Bibel wachsen können, und dafür scheint diese Ausgabe geeignet wie keine andere.
Rainer Oberthür hat eine sorgfältige Auswahl der wichtigsten Bibeltexte getroffen, sie sprachlich behutsam aufbereitet und mit einfühlsamen Rahmentexten und Erklärungen versehen, die die Lebendigkeit der Texte für Kinder hervorheben und zur Beschäftigung mit ihnen einladen.
Besonders gefreut hat mich auch, dass die jüdische Tradition in dieser christlichen Bibelausgabe gehörig zu Wort kommt und ihre Stellung gewürdigt wird. Das äußert sich nicht nur im Titel "Erstes Testament", das die hebräische Bibel als wahrlich nicht veraltetes Werk kennzeichnet, sondern auch im fühlbaren Durchscheinen der ursprünglichen Kraft biblischer Redeweise. Auch im Neuen Testament wird eine Sprache verwendet, die das WORT mit unbedingtem Respekt behandelt. Dazu war ich geradezu begeistert von dem Mut, in einer Bibelausgabe für Kinder das Neue Testament mit dem Johannesprolog ("Im Anfang war das Wort ...) einsetzen zu lassen. Dadurch wird der Zusammenhalt der beiden Testamente eindringlich betont, wie es sprachlich und dramaturgisch nur natürlich und notwendig ist. Dieser Prolog ist eigentlich das Tor zur christlichen Verkündigung - so etwas wie seine geistige Quintessenz. Damit wird auch das Anliegen jeder Bibellektüre noch einmal hervorgehoben: das WORT im Leser wirksam werden zu lassen - das ist schließlich der einzige Ort, wo es lebt und leben kann. Und dort erweist sich jeder als Kind, das mit Staunen wachsen will.
Die "Bibel für Kinder" bietet zum Text eine von der Theologin und Kunsthistorikerin Rita Burrichter besorgte und kommentierte große Auswahl an ganzseitigen Abbildungen kunsthistorisch bedeutender Malereien. Meine jüngste Tochter - gerade ins erste Schuljahr gekommen - war von der Pracht und Vielfalt der Darstellungen sehr begeistert. Diese Bilder, die weit mehr als "Illustrationen" sind, laden zu der gleichen Beschäftigung und Auseinandersetzung ein, wie es auch die Texte tun.
Die handwerklich sehr gediegene und schöne Ausstattung und Typographie des Bandes macht das Werk zu einem auch sinnlichen Vergnügen. Es ist wohl nicht selbstverständlich, dass ein Buch von diesem Format und mit dieser buchbinderischen und editorischen Qualität zu einem so moderaten Preis angeboten wird. Ich hoffe deshalb, dass es nicht nur viele Käufer, sondern noch mehr Leser findet.
Kurz: Ich habe selten an einem Buch solche Freude gehabt!