Das Trauerkaleidoskop

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Überleben
Wirklichkeit
Gefühle
Sich anpassen
Verbunden bleiben
Einordnen

Trauerwege sind anstrengend, unvorhersehbar und ganz individuell. Doch auf allen Trauerwegen setzen sich Menschen mit intensiven Gefühlen auseinander: Schmerz, Sehnsucht und Ohnmacht, aber auch Dankbarkeit und Liebe. Die Trauernden gestalten ihren veränderten Alltag neu, suchen Antworten auf das Warum? eines Todes und beschäftigen sich mit dem Sinn des eigenen Weiterlebens.
Chris Paul, eine der renommiertesten Trauerbegleiterinnen Deutschlands, präsentiert einen ganz neuen Ansatz: Ihr Kaleidoskop des Trauerns bietet ein lebensnahes, leicht verständliches Bild, in dem sich Trauernde auf ihren Trauerwegen erkennen können. Sie zeigt viele unterschiedliche Reaktionen und Gestaltungsmöglichkeiten eines Trauerweges. Die möglichen Stolpersteine werden anschaulich beschrieben und ihre Bewältigung kann mit den vielen alltagstauglichen Ideen zur Unterstützung gelingen.

Überleben

Dieser Facette habe ich die Farbe Orange zugeordnet. Leuchtend und schrill wie eine Warnweste. Denn Überleben ist etwas anderes, als es sich gut gehen zu lassen. Überleben ist eine rohe, simple Angelegenheit. Man atmet weiter und übersteht den Tag und die Nacht und den nächsten Tag. Jeder von uns macht das anders. Alles Fühlen, Erinnern und Sprechen ist diesem Anliegen untergeordnet. Überleben hat Vorrang und Überleben ist immer wieder dran zum Kraftschöpfen und zum Ausruhen von den Anstrengungen der anderen Trauerfacetten. Hier eine unvollständige Liste der Möglichkeiten, die wir nutzen, um etwas Erschreckendes zu überstehen: Ablenken, laute Musik, Fernsehen, Alkohol, Internet. Sich in Arbeit stürzen. Alles so machen wie zuvor. Reden wie ein Wasserfall. Verstummen. Nähe suchen. Sich zurückziehen. Einschlafen. Innerlich abschalten. Ganz viel Sport. Raus in die Natur. An Schönes denken. Aggressiv werden. Beten oder Meditieren. Pflichtbewusst sein. Für andere da sein. Weglaufen. In der Vergangenheit leben. Die Vergangenheit abstreiten. Vieles von dem, was Ihnen an Ihrem eigenen Verhalten seltsam und unvernünftig erscheint, ist eine Überlebensstrategie. Das gilt auch für das Verhalten der Menschen um Sie herum.

Einordnen

Dieser Facette habe ich die Farbe Blau zugeordnet, Blau wie der Himmel über uns, der so selbstverständlich ist, dass wir ihn oft gar nicht mehr bemerken. Genauso wenig achten wir im Alltag auch darauf, welche Gedanken wir denken, und darum geht es hier. Trauerprozesse bringen nicht nur intensive Gefühle mit sich, sondern sie bewirken auch in unserem Gehirn Höchstleistungen! Jede Warum?-Frage, jede Suche nach neuem Lebenssinn ist eine Denkaufgabe. Trauernde versuchen einzuordnen und zu bewerten, was ihnen zugestoßen ist. Der Tod eines nahen Menschen und die eigene Reaktion darauf stellt alle bisherigen Grundüberzeugungen in Frage: Stimmt das so noch? Oder muss das jetzt alles noch mal neu interpretiert und geordnet werden? Bin ich das Glückskind, die starke Frau, der gute Mensch, für den ich mich immer gehalten habe? Ist die Welt wirklich gerecht? Habe ich mein Schicksal in der Hand, wie ich immer dachte? Heilt Liebe doch nicht alle Verletzungen und Krankheiten? Manchmal bestätigt ein Sterben frühere Erfahrungen und tiefe Ängste. Manchmal widerspricht es dem Optimismus, der bisher stets getragen hat. Die Neubewertung der Vergangenheit färbt den Blick auf die Gegenwart und hat dann auch Auswirkungen auf die Zukunft. Je düsterer und hoffnungsloser die Interpretation des eigenen Lebens in der Vergangenheit ausfällt, desto weniger Freude und Zufriedenheit sind für die Zukunft denkbar. Umgekehrt sind Vergangenheitsdeutungen, die Freude und Leid nebeneinanderstehen lassen können, ein guter Ausgangspunkt für wachsende Lebensfreude.

Sich anpassen

Dieser Facette habe ich die Farbe Grün zugeordnet, weil es um uns herum immer etwas Grünes gibt, und hier geht es um alles, was außerhalb der eigenen Gedanken stattfindet. Nach dem Tod eines nahen Menschen ändert sich das eigene Leben – manchmal bleibt keine Minute des Alltags, wie sie vorher war. An diese Veränderungen müssen Trauernde sich anpassen. Sie sind gezwungen neue Wege zu finden, mit sich selbst und dem Leben umzugehen. Diese Veränderungen betreffen das Zuhause und den Alltagsablauf. Sie betreffen auch die Rollen und Aufgaben, die man in einer Familie oder Partnerschaft übernimmt. Veränderungen, an die Trauernde sich anpassen müssen, betreffen auch die Reaktionen aller Menschen, denen man begegnet, z. B. in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis, in der Lerngruppe oder im Fitnessstudio. Man muss damit umgehen, dass manche Menschen nicht mehr grüßen und andere mit ungebetenen Ratschlägen reagieren. Es kostet Kraft, sich im veränderten Leben zurechtzufinden und neue Rollen und Verhaltensweisen auszuprobieren.

Wirklichkeit begreifen

Dieser Facette habe ich die Farbe Dunkelgrau zugeordnet, weil es sich so unerträglich dunkel und bedrückend anfühlen kann, wenn man begreift, dass ein geliebter Mensch wirklich tot ist. Es fällt schwer zu verstehen, dass jemand gestorben ist und was das eigentlich bedeutet. Die Möglichkeit, den Sterbenden und dann den Verstorbenen sehen und berühren zu können, hilft dabei. Dieses buchstäbliche Be-greifen am Sterbebett, bei einer Totenwache oder beim Abschiednehmen unterstützt die Realisierung des Todes. Darüber zu sprechen hilft auch dabei, die Wirklichkeit eines Sterbens zu verstehen. Jedes Mal, wenn klar benannt wird, dass jemand gestorben ist (nicht gegangen oder eingeschlafen), wird der Tod ein Stück wirklicher. Die Geschichte des Abschieds erzählen können, von anderen etwas dazu hören, sich austauschen und bestätigen, macht den Abschied wirklicher. Hilfreich beim Realisieren ist auch der Zugang zu den Informationen darüber, woran und wie jemand gestorben ist, so entsteht eine zusammenhängende begreifbare Geschichte. Sterben ist wirklich etwas anderes als Verreisen oder den Kontakt abbrechen. Es ist end-gültig, nicht zurück zu nehmen und für immer. Diese Wirklichkeit des Todes lernt man nur mit jedem Tag, der vergeht. Sterben ist auch deshalb anders als Verreisen, weil es Fragen nach dem Danach aufwirft. Seelenwanderung? Auferstehung? Schwarzes Loch? Wiedergeburt? Das sind Glaubensinhalte und Überzeugungen, aber sie fühlen sich ganz wirklich und wahrhaftig an und Menschen brauchen diese Vorstellungen für ihr Begreifen der Wirklichkeit eines Todes.

Gefühle

Dieser Facette habe ich ein kräftiges Rosa zugeordnet, weil die vielen unterschiedlichen Gefühle so intensiv und stark sind, aber auch zart und zärtlich sein können. Trauerprozesse enthalten eine Vielzahl von Gefühlen: Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Schmerz, Erleichterung, Angst, Neid, Dankbarkeit, Sehnsucht, Liebe und viele mehr. Alle diese verwirrenden überwältigenden Gefühle sind wichtig. Auch wenn sie anstrengend sind, die Konzentration für den Alltag rauben und einem selbst peinlich sind – sie helfen, den Verlust zu bewältigen. Jedes Gefühl braucht dafür auch einen Ausdruck, hier einige Beispiele: Traurigkeit, Verzweiflung und auch Sehnsucht können sich in Tränen einen Weg bahnen oder in Rückzug. Wut, Hilflosigkeit und Abwehr äußern sich in Geschrei und Streit oder in Schweigen und Abwendung. Sehnsucht findet z. B. in Grabbesuchen, Trauertagebüchern, dem Gestalten von Erinnerungskisten oder Fotobüchern ihren Ausdruck. Liebe und Dankbarkeit können sich in Erzählungen und Ritualen ausdrücken. Der Seelenschmerz drückt sich oft auch körperlich aus. Manchmal verwandelt sich der Seelenschmerz direkt in Körperschmerz – z. B. in Magenkrämpfe und Kopfschmerzen. Nicht nur das metaphorische Herz, sondern auch das physische Herz fühlt sich dann schwer an und stolpert. Der Seelenschmerz kann sich in Atemnot, Beklemmungen und starkem Frieren ausdrücken. Die inneren Kreisläufe sind oft so durcheinander wie die eigenen Gedanken und Gefühle – Schlafen und Essen finden dann nur mit Mühe in einen vertrauten Rhythmus zurück. Der Körperschmerz braucht den Ausdruck des Seelenschmerzes, um langfristig wieder in den Hintergrund zu treten!

Verbunden bleiben

Dieser Facette habe ich ein leuchtendes Gelb zugeordnet, weil die Verbundenheit mit dem Verstorbenen für viele Trauernde wie ein Sonnenstrahl ist. Menschliche Beziehungen zwischen Lebenden bestehen aus dem Bewusstsein innerer Verbundenheit, aber auch aus Blicken, Berührungen und gemeinsamen Aktivitäten. Nach dem Tod eines Menschen muss man auf alle körpergebundenen Gemeinsamkeiten verzichten und sich mit gedachten und geahnten Bindungsfaktoren begnügen: Erinnerungen und Anekdoten ermöglichen ein Gefühl von Verbundenheit. Träume vom Verstorbenen und die Wahrnehmung von Zeichen schaffen ein Gefühl von innerer Verbindung. Manchmal ist es, als sei der Verstorbene auf eine nicht zu erklärende Weise immer präsent im eigenen Leben, unterstützend und freundlich. Manche empfinden die Verstorbenen wie gute Geister oder Schutzengel, die in entscheidenden Momenten spürbar werden und Rat geben. Verstorbene waren normale Menschen, die Licht- und Schattenseiten hatten. Auf der Suche nach innerer Verbundenheit über den Tod hinaus werden beide Seiten und alle Widersprüche auch einer Beziehung näher erinnert. Denn bedrückende und beängstigende Erfahrungen können ebenso innere Bindungen schaffen wie Beglückendes. In dieser Trauerfacette geht es um das Suchen nach dem, was bleiben soll und dem, was in den Hintergrund treten kann. Früher dachte man, Trauernde müssten sich komplett von den Verstorbenen lösen, um sich den Lebenden zuwenden zu können. Das gilt als überholt. Trauernde, die sich mit ihren Verstorbenen in positiver und stärkender Weise verbunden fühlen, sind offen für das Leben und die Menschen darin.