Von:
Susanne Beischer
aus Hamburg
22.04.2024
„Holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen“… Den Menschen, die früher mit ihren Bauchläden und Karren über die Ortschaften zogen, Messer und Scheren schliffen, Schuhe putzten oder Haushaltsgeräte verkauften, begegnete man vielerorts mit Misstrauen und Verachtung. Sie hatten keinen guten Ruf, schienen für die Mehrheitsgesellschaft der Inbegriff von vagabundierenden Kriminellen zu sein.
Dieses sehr spannend geschriebene Buch hat mich mit vielen Vorurteilen konfrontiert, mit denen ich selbst aufgewachsen bin. Beim Lesen wurden mir Wissenslücken bewusst, die manchmal unreflektiert durch stereotype Zuschreibungen gefüllt waren. Bis heute existieren in den Köpfen vieler Menschen der Mehrheitsgesellschaft diskriminierende, einengende und auch falsche Vorstellungen von dieser großen Minderheit innerhalb Deutschlands, die dafür kämpft als diejenigen anerkannt zu werden, die sie wirklich ist. Der Antiziganismus ist bis heute eine uralte Form des Rassismus, der so tief sitzt, dass er meist kaum als solcher erkannt wird.
Da besteht dringender Aufklärungsbedarf, dem mit diesem Buch in berührender, authentischer und sehr informativer Weise Rechnung getragen wird.
In der lebendig erzählten Familiengeschichte des Sinto Romeo Franz erfährt man sowohl über das ganz normale Alltagsleben der Großfamilie und über die Individualität ihrer Mitglieder, als auch über die sehr lange bedrückende Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung, bis hin zu der systematischen Verfolgung und Ermordung in der NS-Zeit. Der Hass und das überlieferte Feindbild waren bei der Masse der Deutschen bereits vorher stark verinnerlicht, so dass die Nazis diese nur nutzen mussten, um die Sinti und Roma aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ auszuschließen und zu verfolgen. Die anthropologischen körperlichen Vermessungen dienten rein rassistisch motivierten Studien und dem Zweck der Verfolgung und Vernichtung. Die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ organisierte Deportationen in Arbeits- und Konzentrationslager, in denen ihre Opfer gefoltert und ermordet wurden. Es gab Verfolgung und Flucht quer durch Europa, um der Internierung zu entgehen, kaum jemand wurde verschont. Schätzungen nach wurden 500.000 europäische Sinti und Roma von den Nazis ermordet.
Nach 1945 war die familiäre Gemeinschaft geprägt von Traumatisierung, Schmerz und Trauer um die geschundenen und ermordeten Angehörigen, die aber als Opfer des Terrorregimes bis zum Jahr 1982 nicht anerkannt wurden. So gab es für die meisten Sinti und Roma keine Entschädigung für Freiheitsberaubung und Zwangsarbeit, Existenzverlust und Gesundheitsschäden — eine demütigende Missachtung ihres vielfältig erlittenes Leids, das in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.
Wie Alexandra Senfft die persönlichen Schilderungen von Romeo Franz in eine einfühlsame Sprache gebracht und mit den historisch akribisch recherchierten politisch-historischen Ereignissen verwoben hat, bringt uns die Lebensgestaltung und die Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma sehr nahe. Fotographien und Karten von Fluchtrouten dokumentieren anschaulich die Verankerung der Familie in ihren Lebensbezügen ebenso wie auch die Vertreibung aus ihrer vertrauten Wohnsituation.
Und gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass die Familienmitglieder aufgrund ihrer Kraft und Resilienz, ihren starken Kompetenzen und dem familiären Zusammenhalt es geschafft haben, sich Lebendigkeit, Würde und Stolz zu bewahren. Es ist auch eine Geschichte der Zuversicht, Romeo Franz’ Leben eine Erfolgsgeschichte.
Es ist ein sehr lesenswertes, berührendes und erhellendes Buch, das unbedingt geschrieben werden musste, um die Geschichte einer bis heute von Vorurteilen diskriminierten Minderheit in Deutschland zu erzählen. Wir erfahren viel über die Entstehung von Vorurteilen im Lichte historischer Ereignisse und werden somit für stereotype Klischees sensibilisiert.