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Rezension zu
Im Morgen wächst ein Birnbaum

Toxische Männlichkeit

Von: Sabine Ibing
19.09.2023

«Ich bin mehr als die Projektion der anderen.» Dieser Roman ist letztlich eine Autobiografie, in der Fikri Anýl Altýntaş Stereotypen der Männlichkeit untersucht und sich Stück für Stück von seinem kulturellen Erbe löst. Er wächst als Sohn türkischer Eltern in einer hessischen Kleinstadt auf. Sein Vater war bereits als Lehrer in der Türkei tätig, arbeitet in Deutschland als Türkischlehrer, seine Mutter als Reinigungskraft, bzw. sie ist Hausfrau. Es ist eine Kindheit inmitten von Sozialwohnblocks, später mit dem eigenen Haus, geprägt von dem drängenden Wunsch, «deutsch» zu sein und der bitteren Enttäuschung über die Realität in Deutschland. Ein Wechselbad der Kulturen – auf der einen Seite das «Deutsche» anzunehmen, doch im Haushalt durfte nur Türkisch gesprochen werden und auch sonst wurde sehr traditionell die türkische Kultur zelebriert. In Fikri Anýl Altýntaş wächst die Sehnsucht, gesehen zu werden und einen eigenen Weg als türkisch-muslimischer Mann zu finden. Es ist aber auch eine Geschichte über Diskriminierung und Rassismus. «Ich habe auch mit 14 und 15 Jahren gedacht, o.k., irgendwie werde ich nicht als 'deutsch' und nicht als 'weiß' wahrgenommen, das heißt ich muss auch irgendeine Selbstsicherheit in mir finden. Das hat natürlich dazu geführt, dass ich irgendwann gedacht habe, ich will der Typ sein, der krasse Rap Musik hört und einen Bling Bling Ohrring trägt. Das hat damals auch eine Berechtigung gehabt, weil ich da zum ersten Mal eine Sicherheit in meinem eigenen Sein und in meiner eigenen Sozialisation gefunden habe.» Der Vater war immer sein Vorbild. Aber will er Sohn den Weg des Vaters gehen? Er fragt sich: Was bedeutet Männlichkeit überhaupt und wie kann sie jenseits der Klischees verstanden und gelebt werden? Radikal ehrlich blickt er auf sich und seine Familiengeschichte zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen. Es ist keine Abrechnung, sondern eine zärtliche Annäherung an den Vater, an seine Sehnsüchte und die Verletzungen, die er erfahren musste, im fremden Land, wie später auch im eigenen. Ein tiefer Einblick in eine typisch muslimische Einwandererfamilie, die sich nicht angenommen fühlt, Kinder, die sich mit doppelter Kultur konfrontiert sehen. Familiengeschichte und Identität – wie prägt sich Männlichkeit, und inwiefern ist auch das Leben in zwei Kulturen damit zusammenzubringen? Fragen, die sich der Autor stellt. «Ah be, baba. Hätte ich gespürt, dass du so viel Trauer in dir trägst, hätte ich sie zusammen mit dir getragen. Du hättest mir gesagt, wohin es geht. Ich hätte keine Sekunde gezögert und das getan, was du von mir wolltest, damit du nicht weinst. Ich wusste, dass du heimlich weinst, auch wenn du es nicht vor uns getan hättest.» Will ich dem Rollenbild meines Vaters entsprechen?, fragt sich der Autor: zu viel Gewalt, Frauenverachtung und Rassismus. Er kann sich mit dem patriarchalischen Führungsstil des Vaters nicht identifizieren. «Meine Mutter entschied, was es bei uns zu essen gab. Mein Vater, ob es schmeckte.» Er will sich von toxischer Männlichkeit lösen, weg von Dominanzstreben, von dem Glauben, dass Männer in der Gesellschaft wertvoller sind, mehr Gewicht haben. Er hat die Unsicherheit und Verletzlichkeit an seinem Vater wahrgenommen, ihn im Verborgenen weinen sehen – aber anstatt dies zuzulassen, hat der Baba dies männlich dominant überspielt. Für Fikri Anil Altintas geht es darum, Gefühle zuzulassen, das System der Männlichkeit zu hinterfragen, die «Macht» mit den Frauen zu teilen, in einem gleichberechtigten Gesellschaftssystem zu leben. Auf zweierlei Ebenen ein interessantes Buch, weil es einerseits eine migrantische Familiengeschichte darstellt und auf der anderen Seite als Auseinandersetzung mit der Männlichkeit ein anderes Gesellschaftsbild fordert. Literarisch knirscht es hier und da ein wenig – und dann kommen Stellen, die sehr berühren. Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch! «Ah be, baba. Du willst nicht, dass die Heimat dir mit Wut begegnet. Sich von dir entfernt und deinen Namen aus dem Gedächtnis streicht. Wie soll sie das auch, wenn du ihren Namen jeden Tag im Munde führst? Ihn pflegst wie die Bäume im Garten, den du in der Türkei hast? Ah be, baba. Du sagst, du bist nicht einer von hier geworden, dabei haben wir doch uns, reicht dir das nicht, baba? Fikri Anil Altintas, geboren 1992 in Wetzlar, studierte Politikwissenschaften, Ethnologie und Osteuropastudien in Tübingen, Istanbul und Berlin und arbeitet als politischer Bildner und freier Autor. Er schreibt unter anderem für der Freitag, taz und pinkstinks. de. In seinen Texten, Vorträgen und Workshops, u.a. für den Gropius Bau und das ZDF, beschäftigt er sich mit Männlichkeit und Rollenbildern, Privilegien und der (De)-Konstruktion von nicht-weißen, muslimisch gelesenen Männlichkeiten in Deutschland. Auf Instagram schreibt er unter @_faanil über Rollenbilder und bricht mit Sehgewohnheiten und ist ehrenamtlich als #HeForShe Deutschland Botschafter von UN Women Deutschland aktiv.

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